Gedanken zu 173 Kathedralen für die Welt Translations Kontakt Impressum


Mladen Kunstic


173 Dom Variationen
- Text Dr. Christine Vogt



Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen (Pablo Picasso). Diese Weisheit scheint sich in besonderer Form in den Dom-Variationen von Mladen Kunstic wiederzuspiegeln. Er hat sich die Aufgabe gestellt, 173 Variationen über ein Gebäude, einen heiligen Ort zu malen. Für Kunstic eine künstlerische wie persönliche Herausforderung.
Seit einem sehr persönlichen Schlüsselerlebnis im Aachener Kaiserdom im Frühjahr 2006 fesselt ihn der Dom zu Aachen so sehr, dass er mit Leidenschaft und Begeisterung daran geht, immer neue Ansichten und Wahrnehmungen des historischen Bauwerks auszuarbeiten.
Es ist eine Work-in-progress-Situation, die eine besondere Form von Zeitlichkeit impliziert, in der Kunstic Bild für Bild als Teile eines großen Ganzen gestaltet. Bisher sind 55 der 173 Dom-Variationen entstanden, die in dieser ersten Ausstellung das Projekt vorstellen und in die Besonderheiten der Kunstic’schen Malerei einführen.
Zu dem Entstehungsprozess des Gesamtwerkes, der von Kunstic auf etwa drei Jahre geschätzt wird, gehört für den Künstler auch erklärtermaßen der Prozess der Selbstwerdung, der selbst auferlegten Klausur in seinem Atelier, die Zeit der Anspannung und der Selbsterkenntnis. Diese persönlichen emotionalen Befindlichkeiten geben den Bildern besondere Energie und Ausstrahlung.
Begleitend zum Malprozess setzt sich Kunstic mit vielfältigen Fragestellungen intellektuell auseinander. Er beschäftigt sich nicht nur mit der Geschichte jener Zeit, mit der deutschen und europäischen Geschichte, mit der Geistesphilosophie sondern auch mit theologischen Fragen. Die gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse werden mittels Farbe, Formen und Linien auf die Leinwand transformiert, ein vielschichtiger Prozess, der in die Entstehung der Bilder greift. Die dreijährige Work-in-progress-Situation wird die Unterschiede und Spannungsverhältnisse zwischen den ersten und letzten Bildern aufzeigen.

Der Aachener Dom in seinem heutigen Erscheinungsbild, bildet die Grundlage für Kunstics Variationen. Bei einigen Bildern sind es auch ältere Ansichten, die den Malereien zugrunde liegen. Es geht ihm dabei keineswegs um eine realistische bzw. historische Wiedergabe des Bauwerks. „Ich reflektiere nicht, was ich sehe, sondern in einem Prozess des Aufspürens finde ich etwas, was bis dahin für mich im Dunkeln war“, erläutert der Künstler. Die Suche nach Mehrdimensionalität in seiner Kunst, in seinem Leben ist prägend für das Gehen eines eigenen Weges. So ist es kein Zufall, dass er sich nach wenigen Jahren Beschäftigung mit der Malerei der Bildhauerei zuwandte, um die Dinge begreifen zu lernen. Klangskulpturen, die häufig im Einklang mit der Natur standen, bestimmten seine bildhauerische Tätigkeit. Häufig konnten die Betrachter selbst durch Berühren, durch Begreifen den Skulpturen ihre Klänge entlocken.
Nach seiner Wiederaufnahme der Malerei Mitte der 1990er Jahre entwickelte Kunstic nach langem Experimentieren eine eigene Maltechnik. Er wählte als Trägermaterial für seine Bilder eine Collage-Technik aus vorgefundenen Gegenständen der Alltags-kultur; mit Vorliebe Hochglanzbroschüren aus dem Bereich der Kunstwelt, aus Büchern und Printmedien, die er in einem Spezialverfahren auf Leinwand auftrug. „Für mich geht es in meiner Arbeit um universelle Dinge und so ist ein wesentlicher Leitgedanke meiner Kunst, die Idee, ein Bild von einem Bild, auf einem Bild zu malen, um so immer eine neue Distanz zur Wirklichkeit herzustellen“.

Die Komplexität des Ortes und seine Transzendenz entziehen sich in den Bildern der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Gedanken, wie die der Zahlenmystik, die dem Gebäude Form und Ausdruck verleihen, finden sich auch in der Zahl 173. Der Aachener Domkapitular Erich Stephany betonte, dass die Klarheit des Dombaues auf Harmonie und Proportion und den „heiligen Zahlen“ beruhe. So kann die Eins für das Göttliche, die Sieben für die Schöpfungstage und Vollendung der Genesis, aber auch für die Sakramente und mehr stehen. Die Eins und Drei addieren sich zur Vier, die für die vier Evangelien stehen kann. Eins und Sieben verbinden sich zur Achtzahl des Oktogons, dem heiligen achtseitigen Raum Gottes. Während die Drei, durch den dreifaltigen Gott, wohl die christlichste aller Zahlen ist.

„Dinge, die ihren Wert über Jahrhunderte behalten, sind enorm wirkungsvoll“, erklärt Kunstic. Dass es sich bei dem Gebäude des Aachener Doms um ein einzigartiges Ensemble handelt, zeigt nicht nur die Aufnahme in die UNESCO-Liste als Weltkulturerbe. In Harmonie vereint der Dom zwei Bauformen, die in ihrem Ausdruck unterschiedlicher nicht sein könnten.
Dem karolingischen Oktogon mit seinen mächtigen Mauern, seiner zentralistischen Geschlossenheit, seinem unübersehbaren Herrschaftsanspruch, wurde später das hochgotische Glashaus angesetzt, ein nach Osten gerichteter transparenter Chorraum, der in seiner fragilen Leichtigkeit nicht feiner sein könnte. Karl der Große ließ den karolingischen Teil zu Ehren der Gottesmutter Maria erbauen und von italienischen Spezialisten auf das Feinste mit Bronze, Marmor und anderen Arbeiten ausschmücken. Er wählte diesen Ort als seine Grablege, die von späteren Generationen prunkvoll ausgestattet wurde. So hinterließ Karl nach seinem Tode der Stadt Aachen ein unsterbliches Vermächtnis: Seit 814 ist die Pfalzkapelle seine Grabeskirche, sie wurde so zum Kaiserdom. Seit dem 14. Jahrhundert umfängt der „Glasschrein“ des Bauwerks den Goldschrein des Kaisers. Viktor Gielen äußert sich zu Karl d.Gr. 1978 in seinem Buch „Im Banne des Kaiserdomes“ so: „Leuchtturm Europas“ hat man treffend Karl den Großen genannt, jenen Mann, der dem Abendland seine Gestalt gab. Wenn Jahr für Jahr so viele tausende Menschen zu seiner Grabeskirche pilgern, ist es nicht vor allem deshalb, weil sie in ihrem Unterbewusstsein die Sehnsucht hegen, nach allgemein verbindlichen Wertvorstellungen, nach einem christlichen Einheitsreich, wie Karl es anstrebte? Ist es nicht, weil sie etwas wie Heimweh verspüren, nach dem Gottesreich auf Erden, nach dem Reich des Friedens, Abbild und Vorbild des himmlichen Jerusalem, das Karl in seinem Dom darstellen wollte?“

In seiner typischen expressiven Formensprache öffnet Kunstic immer neue Blickwinkel auf das vermeintlich Bekannte. Häufig ist es die Kontur, die in Gelb, Rot, Schwarz oder Blau den Umriss der Domsilhouette markiert. Manchmal scheint es, als ob auf eine abstrakte Weltansicht die Kontur des Domes übertragen würde (Variation Nr.15, 20). Die Assoziationsmöglichkeiten sind zahlreich. Eine der Variationen (Nr.5) scheint selbst zum Goldschrein zu werden. Kunstics Bild erleuchtet nicht nur die Chorhalle, es lässt die gesamte Südansicht als Goldschrein erstehen. Dieses Bild transformiert den Gedanken der Kostbarkeit, des Glanzes und des Lichtes.
So erstrahlt der Dom, von innen beleuchtet, in festlichem Licht (Variation Nr.12). Die aus den Fenstern herausspringenden expressiven, gelben und orangenen Farblinien lassen auch an Feuer und Brand denken. Zwar wurde der Aachener Dom von all diesen Gefahren über die Jahrhunderte hinweg verschont, doch verbindet jeder Aachener mit dem großen Stadtbrand von 1656 die Vernichtung der mittelalterlichen Bebauung der Aachener Innenstadt (bis auf Dom und Rathaus). Ebenso bei den Bombardements im Zweiten Weltkrieg, wo allein der Dom – wie durch ein Wunder, ohne größere Schäden bzw. Zerstörung überdauert hat.

Historische und christliche Inhalte binden sich an dieses Gebäude; die Menschen bestaunen dieses Bauwerk, diese Kirche, die aus tiefem Glauben entstanden ist und gleichzeitig christliche, karolingische und deutsche Machtgeschichte aufzeigt.
„Die europäische Geschichte liefert den schlagenden Beweis dafür, was für eine entscheidende Rolle die Ideen im Schicksal der Menschen spielen (…) Keine politische und keine militärische Macht, sondern die von der Kirche ausgehende geistige Kraft verlieh Europa seine Stärke,“ sagte Leo Tindemans, belgischer Premierminister, bei der Verleihung des internationalen Karlspreises in Aachen 1976.

Das Unsichtbare sichtbar machen
Die Fantasie, die Intuition sind für Kunstic das zentrale Moment bei seinen Variationen. Unzählige Menschen haben in über zwölf Jahrhunderten diesen Ort besucht, das Gebäude wahrgenommen, in ihm gebetet und ihre Bitten als Hoffnung in Bilder und Ideen gekleidet. Die entstehenden 173 Dom Variationen sind eine kleine Schöpfung und Annäherung an diese vielen Bilder. Eine von Kunstic auferlegte Beschränkung in der Zahl und Machbarkeit.

Das 173 Bilder Unsichtbares sichtbar machen können, ist fraglich. Doch geben sie eine Grundlage für neue Einsichten und können zugleich ein Spiegel für die Gedankenbilder des Betrachters sein. Gerade in der heutigen säkularisierten Gesellschaft bedarf es Anregungen, in der Verweltlichung Zeit und Raum zu schaffen für Sinn suchende, auch mystische Erlebnisse. Kunstics Bilder reichen über den realen Raum hinaus, hinein in etwas Imaginäres. Sie bieten die Möglichkeit des Eintauchens in sich selbst und in geheimnisvolle und magische (Innen-)Welten. Die Bilder zeigen keineswegs nur den Außenraum. Im Gegenteil, über das Außen des Domes wird etwas über sein Inneres ausgesagt. Das Äußere spiegelt Inneres.

Mladen Kunstic sieht Aachen als zentralen Ort in der Werdung Europas. So soll von Aachen aus das Ausstellungsprojekt in verschiedene europäische Länder reisen. Der Aachener Kaiserdom und die 173 Kathedralen könnten so zum Sinnbild des einigen und friedlichen Europa werden.


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Heiliger Raum



Gottes heiliges Haus entsteht aus lebendigen Steinen

Text Dr. Angela M. T. Reinders


„Ich möchte nicht in ein er Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. […] Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. […] Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.“ Der Autor Pascal Mercier legt diese Worte Amadeu Prado, einer Romanfigur, in den Mund, dessen Leben man lesend im Buch „Nachtzug nach Lissabon“ auf die Spur kommt. Fast zornig verteidigt der Romanprotagonist die Präsenz heiliger Räume in der Welt, gegen die Welt, als mahnendes Zeichen für die Welt.

So richtig es ist, dass die Kirche und die Menschen, die in ihr eine Liturgie feiern, die in ihr beten und in ihr mit Gott und untereinander Gemeinschaft haben, nicht die profane Welt vergessen können – was wäre ein Gottesdienst ohne Menschendienst? –, so richtig ist auch, dass das Heilige und die Räume, in denen es wohnt, den Menschen unverfügbar sind. Gott ist „der Heilige“. So sagt es die Liturgie. Doch Gott ist nicht nur der Heilige, wenn Menschen diese Worte singen und sagen, wenn sie ihn als den Heiligen bekennen. Gott ist schon vor jedem Menschenwort heilig. Er bleibt dem Menschen unverfügbar.

„Raum“, „Makom“ als Wohnraum der Schechina, der Weisheit Gottes, ist sozusagen einer der Namen dieses heiligen, unverfügbaren Gottes. Gott, der Raum ist und schenkt, räumt den Menschen Raum ein, damit sie darin wohnen. Die Menschen, die den Raum als Gabe aus der Hand Gottes empfangen und empfinden, glauben, dass Gott ihren Lebensraum umfängt und darin gegenwärtig bleibt. Darum kann der Mensch ihm darin begegnen:

Mose überschreitet den Raum, innerhalb dessen klar umrissenen Grenzen er sich üblicherweise bewegt. Er treibt die Schaf- und Ziegenherde, die er hütet, an einem Tag in kühnem Entschluss „über die Steppe hinaus“ (Ex 3,1). So, im Überschreiten eigener Grenzen, wird möglich, dass er Gott begegnet. Der heilige Raum Gottes ist jedoch, neudeutsch und im Wortsinn, ein „no go“, ein nicht zu betretender Raum: „Komm nicht näher heran. Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Ex 3,5).

Umgeben vom Heiligen, von Gott, der Lebensraum einräumt, kann der Mensch die Welt bewohnen. „Wohnen bedeutet für den Menschen, eine Stätte des Bei-sich-Seins, der Selbst-Begegnung und der Begegnung mit vertrauten Menschen zu haben. Sakrale Räume fügen als dritte Dimension die Begegnung mit dem Anderen, mit Gott, hinzu.“

Raumwege
Dieses Gespür für die dritte Dimension hatte in anderen Religionen und Kulturen sogar zunächst größeren Stellenwert als in der christlichen. Mircea Eliade, rumänischer Religionswissenschaftler (1907–1986), hob das mythische Raumgefühl ins Bewusstsein, nach dem der Mensch unterscheidet in „bedeutungsvollen“ und „amorphen“ Raum. Wer aus dem brüchigen, rissigen amorphen Raum in den bedeutungsvollen wechselt, übertritt Schwellen – die Schwelle zur „Heimat“ der eigenen Wohnung zunächst, dann die Schwelle zum heiligen Raum. Die aktuelle Renaissance der „Heimat“ lässt erkennen, dass Menschen dieses mythische Raumdenken bis heute nachempfinden. Sakrale und „[…] kirchliche Gebäude […] zeigen demjenigen, der in sie hineingeht, an, dass er bei seinem Eintritt die Schwelle vom Sinnbezirk des Alltags und dessen pragmatischen Zwängen überschritten und sich in einen anderen „Sinnhorizont’ hineinbegeben hat. [Sie sind …] Verweise auf etwas, das den Alltag transzendiert und dennoch wortwörtlich, räumlich und städtebaulich oft genug mitten im Alltag steht." Die Schwellen zum Heiligtum waren es von jeher, die das Numinose, das Unverfügbare eines Kultes in seinen bedeutungsvollen Grenzen erfahrbar machten. Das Christentum hat es manches Mal verstanden, in neu missionierten Gebieten die Kontinuität eines heiligen Bereiches, eines heiligen Ortes oder Raumes zu wahren. Dort, wo Menschen Jahrhunderte lang andere Götter, andere Riten, andere Kulte gefeiert hatten, dort nahm nun der Gott der Christen seinen Platz ein.

Das Christentum selbst begann seine eigene Geschichte unter Anfeindung und Verfolgungsnot. Über drei Jahrhunderte lang dauerte der Weg aus Privathäusern, heimlichen Versammlungsorten und Katakomben heraus, bis christliche Gemeinden endlich Raum einnehmen konnten. Eine der bekanntesten Kirchenformen, die Basilika, ist ja gar keine genuin christliche. Gerichts- und antike „Mehrzweckhallen“ erfuhren nun ihre neue Bestimmung als Vorbilder für christliche Kirchenräume. Endlich gab es große Bauten, für alle zugänglich, die danach gestaltet wurden, wie der Gottesdienst sich im Lauf der Jahrhunderte entwickelte. Aus Bauten wurde nach und nach „gebaute Liturgie“. Das Geschehen im Raum, die Feier der Gemeinschaft mit und in Gott, heiligte den Raum – diese Dimension fügte sich zu dem hinzu, was die Wahl der Stätte zur Begegnung mit dem heiligen Gott vorgab.

Am Ort heilender Kraft
Das liturgische Geschehen im heiligen Raum der Kirche und die Raumgestaltung waren eng verknüpft mit dem Kirchenbild der Zeit. Karl der Große konnte als Kind seiner Zeit und ihrer darin vorherrschenden Theologie kaum ein anderes Bild als die Sichtbarmachung der göttlichen Legitimation der Königsherrschaft als Gestalt des Reiches Gottes auf der Erde haben. Auch konstantinisch und justinianisch spiegelte der Kirchenbau das wider. Der eigenen Frömmigkeit und der gottgegebenen Macht als König wollte Karl in einem eigenen Kirchenbau sichtbar Gestalt geben. Zwei Fragen muss er sich dabei gestellt haben: Wo ihn bauen lassen? Und zweitens: wie? Dass Karl Aachen – vornehmlich wegen der Heilkraft der heißen Quellen und der strategisch günstigen Lage – besonders schätzte, ist hinlänglich gesichert.

Schon der fränkische Vorgängerbau des heutigen Oktogons war mit Gespür für eine Heiligkeit des Ortes im vierten oder fünften Jahrhundert anstelle römischer Bauten errichtet worden, die unter anderem ein Quellbecken umfassten. Es ist gut möglich, dass hier zu früheren Zeiten der gallorömische Heilgott Granus verehrt wurde. Das daraus sprudelnde Wasser mit seiner Heilkraft bezog man in eine Taufkapelle der pippinidischen Vorgängerkirche ein; so konnte lebendiges Wasser (Joh 4,13) zur Sakramentenspendung dienen. Später errichtete man in diesem kleinen Kirchbau – sicher vor 765 – einen Reliquienaltar und umbaute ihn mit einer Kapelle. Hier liegt die Keimzelle für Karls Anlage.

Die Liturgie, die später in „seiner“ Kirche gefeiert werden sollte, würde maßgeblich werden im Vereinheitlichungsprozess für die Reichsliturgie, den Karl der Große in Gang setzte. Es sollte keineswegs seine ganz private Pfalzkapelle entstehen, sondern, wie es im achten Jahrhundert zunehmend üblich wurde, eine an Maria – die „Himmelskönigin“ – geweihte Kirche, die Raum gab für tägliche Messfeiern an wechselnden Altären, für das Chorgebet der dort eingesetzten Kanonikergemeinschaft und für das Gebet für Karl den Großen und die stabilitas regni, die in Gott gefügte Herrschaft des Königs.

Wie nun einen solchen heiligen Raum errichten und gestalten lassen? Auch, wenn Karl selbst den Entwurf vorlegte, wird der Raum, den er bauen lassen wollte, auch für ihn noch fremd, noch unvorstellbar gewesen sein. Solche Annäherung an einen heiligen Raum als den fremden entspricht seiner letztlichen Unverfügbarkeit: „Zu Hause bin ich nur bei mir selbst; dort, wo meine Lieder gesungen werden, meine Sprache gesprochen wird, meine Lieblingstexte zitiert werden, und zwar in der Weise, wie es mir am besten gefällt“, sagt der Religionspädagoge Fulbert Steffensky (*1933) aus Hamburg. „Zu Hause bin ich nur bei mir selbst – welch eine erstickende Heimat das wäre! […] Ich bin mir selber nicht genug – das lernt man langsam im Leben. Und ich brauche mehr als mich selber. Ich brauche also die Fremde. Ich brauche die Gedanken, die Gesten und die Glaubensspiele meiner alten und meiner jungen Geschwister. Ich brauche die Lieder der Toten.“ Es ist wichtig, diesen Glauben zu erlernen und ihm Ausdruck zu geben „[…] auch in der Sprache der Geschwister, die mir nur halb zu eigen oder gar fremd ist.“

Dass diese Sprache auch ganz fremdem Zungenschlag folgen und weltumspannend sprechen kann, das dolmetschte Karl in seinen Entwurf für die Marienkirche hinein. Im Jahr 787 wurde er inspiriert von San Vitale, dem Zentralbau in Ravenna, der selbst geistes- und baugeschichtlich an die konstantinopolitanische Hagia Sophia anknüpft. Im Auftrag Karls leitete der Baumeister Odo von Metz die Arbeiten am ersten großen Kuppelbau nördlich der Alpen. Karl verschmolz viele Elemente in seinen heiligen Raum. Er brachte ungewöhnliche und unvertraute ein wie überhaupt die Idee eines Zentralbaus in dieser Gegend. Er wahrte überkommene römische Stilelemente – nun sakral geprägte Bögen nach dem Vorbild römischer Triumphbögen für den Saalbau – und Materialien – die vorpippinidischen Mauerreste, die er kleinmahlen und zu Mörtel verarbeiten ließ, um damit auf zukunftsweisend neu architektonisch konzipierten Fundamenten bauen zu können. Von Papst Hadrian (772-795) erhielt er die verbriefte Genehmigung, Säulen und Marmor aus dem vierten bis sechsten Jahrhundert von Ravenna nach Aachen transportieren zu lassen. Die geistesgeschichtlich „fremdsprachlichen“ Einflüsse unterlegte er für den heiligen Raum seiner Marienkirche mit dem vertrauten Grundklang der Bibel. Wer die Schwelle in den heiligen Raum übertrat, sollte sozusagen die Muttersprache des Ersten und Zweiten Testaments wieder erkennen. Das ursprünglich außen rotfarbene Oktogon griff mit der Achtzahl, angelehnt an die Vorbildbauten, biblische Symbolik auf: die Überlebenden der Sintflut, die Visionen Sacharjas zum Plan Jahwes, das zerstörte Jerusalem wiederherzustellen, die Seligpreisungen, der Tag der Auferstehung Jesu – vom Beginn der vergangenen Woche aus gerechnet – nach Lk 24,1.

Die Maßeinheit, fränkische Fuß, rechnete das Gesamtkonzept für den Kirchenbau in Zahlenverhältnisse um, korrespondierend mit der biblisch apokalyptischen Zahl der Geretteten (Apk 7,4-8): Laut des Zeugnisses Alkuins, Karls „Kultusministers“, verfolgte Karl der Große hinter allem, das biblische Bild von der himmlischen Stadt Jerusalem (die ebenfalls nach biblischer Auskunft 144 Fuß misst) schon jetzt in Stein zu zeichnen und mit deutlichen Anklängen an den Jerusalemer Tempel die göttliche Beauftragung zu diesem Bau sicht- und tastbar zu machen. Als die Marienkirche den Pilgeranstrom nicht mehr fassen konnte, löste man das Raumproblem schließlich durch den Neubau eines gotischen Chors anstelle des kleinen karolingischen, Baubeginn war im 14. Jahrhundert. Mit seiner Architektur und Zahlensymbolik – zwölf Pfeiler, getragen von zwölf Aposteln und zwei zusätzlichen Pfeilern, die Maria und Karl abbilden, stützen ihn – wurde der Chor zum eigenständigen Abbild des himmlischen Jerusalems, zum „Bild eines Reiches, das Erlösung verheißt“. Im Aachener „Glashaus“, wie die Chorhalle genannt wird, wurde die bis dahin größtmögliche Transparenz der Wand erreicht – um das Licht der himmlischen Stadt innerhalb des heiligen Raumes einzufangen, das „klar wie Kristall“ (Apk 21,11) leuchtet. An der eindeutigen Vertikalität der Gotik kann der Himmel niederschweben, sich in die Welt der Menschen einlassen, damit sie ihm glaubend und betend nahe kommen dürfen.

Später fügte sich der Kapellenkranz an das Kirchengebäude an, Räume, die pilgernden Menschen eine Heimat boten, die bei den Aachener Heiligtümern das Ziel ihrer Sehnsucht fanden und sich dabei über ihre eigene Sehnsucht nach Gott klar wurden: „Der Mensch muss sich über sein Suchen klar werden. Zunächst sucht er sich. Zu entdecken bleibt ihm, dass er sich nur auf dem Weg über den anderen und in der Nähe des Christus ganz finden wird.“ Gerade die Ungarnkapelle bezeugt, wie heilige Räume gewachsene Beziehungen symbolisieren und bestärken, als seien sie ein Haus, das erst aus lebendigen Steinen entsteht.

Haus aus lebendigen Steinen
Reliquienkirche, Grabkirche Karls des Großen, Krönungskirche, Bischofkirche – 1802 für kurze Zeit und ab 1930 durchgängig bis heute: Natürlich ist der Aachener Dom alles das. Doch lässt er sich weder hinlänglich durch diese Begriffe beschreiben – als reiner Zweckbau fehlt ihm jede Dimension, die ihm erst seine Bedeutung gibt. „Die Aachener Marienkirche war und ist immer mehr gewesen als ein bloß historischer und faszinierender Bildungsort musealer Schönheit und kultureller Reminiszenz. Sie war und ist ein heiliger und Ehrfurcht gebietender Raum.“ Was ihr Anliegen ist, hat Karl der Große für alle Zeiten ihres Bestehens in sie festgeschrieben: „Cum lapides viri paris compage ligantur – Gottes heiliges Haus entsteht auch aus den lebendigen Steinen“, lautet die Bauinschrift.
„Wo sonst sollen wir mit unseren Gefühlen hin“, mit dem Glauben und Suchen, mit der Not und der Freude? Der heilige Raum birgt und bewahrt, was je in ihm gesprochen, geweint, geküsst und beklagt, gebetet und leise gehofft, gebeichtet und verschwiegen wurde; alles, was erst der „fremde“ heilige Raum ins Bewusstsein der Betenden hob.

„[…] Gäbe es in der über 1200-jährigen Geschichte dieses Doms nicht kontinuierlich den betenden Menschen, dann stünde dieser Dom nicht mehr und Aachen wäre heute wahrscheinlich ein Dorf mit warmen Quellen und Dauerkeks“, formuliert provokant der Aachener Hochschulpfarrer Christoph Stender. So aber ist mit den „lebendigen Steinen“ der Glaube präsent. Wer den Dom betritt, übertritt die Schwelle zur geräumigen Verheißung der Bibel: „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen, sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war: ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu“ (Apk 21,2-5a).



Angela M. T. Reinders
Dr. Angela M. T. Reinders, geb. 1965 in Aachen, Studium der Theologie in Bonn und Münster, Redakteurin und Lektorin beim Bergmoser + Höller Verlag, Aachen.


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