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Mladen Kunstic – auf dem Weg…


Text Dr.Christine Vogt

Kunsthistorikerin Suermondt Ludwig Museum Aachen 2005

Mladen Kunstic ist Bildhauer, Klangkünstler, Maler, Zeichner und Collagist. Alle diese Fähigkeiten – mal mehr, mal weniger hervorstechend, mal in die eine, mal in die andere Richtung weisend – lebt er in seiner Kunst.
In seinen frühen Arbeiten geht er dabei von der Skulptur aus. Große, mächtige und massige, oft maschinenartige Gebilde aus rostigem Stahl entstehen, die den Betrachter zu Berührung und Dialog auffordern. Durch Ziehen, Zerren, hoch und herunter Bewegen, durch die eigene Mitwirkung werden den Arbeiten Töne, von sanft bis zum Getöse, entlockt. Aus Fundstücken, den sogenannten Objects trouvés, setzt Kunstic die Klangskulpturen zusammen. Weggeworfene Gegenstände, auf den Schrott gebrachte Teile werden von ihm zu neuen Objekten zusammengesetzt, die nun in ihrer sperrigen Rostigkeit neu erklingen.
Anfang der 1990er Jahre verändert Kunstic sein Material und schafft Skulpturen aus Federstahl. Nun mit edlerem Material und klareren Formen, setzt er sich neu mit dem Begriff der Bildhauerei auseinander. Immer noch spielt der Klang eine zentrale Rolle. Doch bringt nun nicht mehr der Mensch die Kunstwerke zum Klingen, sondern die Natur. In verschiedenen Projekten stellt Kunstic seine meist großformatigen Werke in der Natur aus und gibt ihnen dadurch eine neue Dimension. Zufall und Zeit spielen hier eine größere Rolle als bei früheren Arbeiten. Die blanke Oberfläche der Federstahlbänder wird von der Natur durch Licht und Schatten und die Farbigkeit der umgebenden Vegetation modelliert, der Künstler tritt zurück, die Natur als Gestalterin tritt hinzu. Durch den Wind wird nicht nur der Klang, sondern auch in einem nicht endenden Variationsreichtum das Spiel von Licht und Farbe verändert.

Malerei
Wandlungsfähig und experimentierfreudig wendet Mladen Kunstic sich Mitte der 1990er Jahre von diesem für ihn nun schon in weiten Teilen gegangenen Weg ab, einer neuen Herausforderung, einem neuen Gestaltungsprinzip zu: Der Bildhauer wird zum Maler. Während zahlreiche andere Künstler zunächst in der Malerei arbeiten und dann zur Skulptur kommen, geht Kunstic den umgekehrten Weg. Sein breit gefächertes Interesse an unterschiedlichen Themen und Richtungen hatte sich schon deutlich bei den Skulpturen gezeigt, doch bietet die Malerei nun noch weitere und neue Ausdrucksmöglichkeiten. Weg vom harten und spröden Stahl, tastet sich Kunstic langsam und beharrlich an die neue Gattung heran. Der im Grundsatz als Outsider zu sehende Künstler, der nach einer Elektrolehre am Abendgymnasium das Abitur nachholte und anschließend an der RWTH Aachen Kunst und Sozialwissenschaften studierte, arbeitet sich zielstrebig und eigenwillig in das neue Gebiet ein. Dabei behält er seine Vorlieben für gefundene und vorgefundene Dinge bei und arbeitet diese in nun ganz neuer Art und Weise in seine Arbeiten ein. Der „horror vacui“, die Angst vor der Leere und hier wohl besonders vor der leeren Leinwand, brachte Kunstic dazu, seine Leinwände vor dem eigentlichen Malvorgang zu bedecken und zu gestalten. So sind seine Gemälde immer zugleich auch Collagen und sprengen in ihrer Eigenwilligkeit den angestammten Gattungsbegriff.
Kunstic findet Kunst- und Auktionskataloge, Computeranleitungen und Bibelfragmente, mittelalterliche Spielanleitungen und Notenblätter. Diese bringt er nach dem Prinzip des gesteuerten Zufalls – Zufall, dass gerade diese Seiten in den Fundobjekten vorhanden sind – gesteuert, da die Wahl und Anordnung durch den Künstler geschieht – in seine Werke ein. Die schnelllebigen Produkte der Industriegesellschaft (Auktionskataloge, Computerbetriebsanleitungen etc.) - heute aktuell, morgen veraltet - bringen eine besondere Art der Zeitigkeit in seine Malerei. Als Untergrund werden sie dem Kreislauf der Wegwerfgesellschaft entrissen und in eine – wenn auch umgedeutete – Dauerhaftigkeit überführt. Wie die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts in der Einstellung der Zeitgenossen die nur wenige Sekunden real existierende Seifenblase für Jahrhunderte auf die Leinwand bannte und somit die Vanitas, die Vergänglichkeit aufheben kann, nutzt auch Kunstic die Möglichkeit der Malerei, um einen neuen Denkanstoß in diese Richtung zu geben. Die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft wird beleuchtet, die Schnelllebigkeit der Kunst – besonders bei dem von ihm mit Vorliebe verwendeten Messekatalog der Art Cologne – wird kritisch betrachtet. Heute noch ein großes Werk der modernen Kunst, morgen schon in Vergessenheit geraten und mitsamt dem Hochglanzkatalog auf dem Müllberg der Kulturen gelandet.
Doch werden die untergründigen und vielschichtigen Inhalte der Malerei Mladen Kunstics nicht auf den ersten Blick, sondern nur bei näherer Betrachtung deutlich. Der Künstler übermalt seine Träger, die auch auf der Bedeutungsebene die Grundlage für sein Tun bilden. Er übermalt und überdeckt sie, verfremdet dadurch ihr Bild, erschwert ihre Lesbarkeit, enthebt sie der Eigenständigkeit und des Eigenwertes. Doch bleiben sie immer in seiner Malerei präsent, in ihren Farben wie ihren Formen.
Nach der langen und manchmal schwierigen Auswahl des „Untergrundes“ verfährt Kunstic bei der Wahl des Bildthemas ähnlich. Auch hier verwendet er Fundstücke aus der immer weiter anwachsenden Flut der Bilderwelt und spielt mit der Imagination und der Kenntnis des jeweiligen Betrachters. Schon bei seinen frühen Klangskulpturen zeigte der Künstler einen ausgeprägten Sinn für das Spielerische. Dies hat er in ganz eigenwilliger Art und Weise auf seine Malerei übertragen. So trifft auch hier das Zitat nach Antoni Tapiés zu, mit dem Dr Gabriele Uelsberg 1990 einen Text zu seinen Skulpturen überschrieb: „Kunst ist wie ein Spiel; nur im Zustand der Unschuld erfassen wir ihren tiefen Sinn und wer weiß, ob das nicht für alles Menschliche gilt.“
Die spielerische Herangehensweise eröffnet dem Betrachter seine persönliche Lesart der einzelnen Werke, die immer eine offene Interpretationsmöglichkeit bieten. Zwar hat der Künstler häufig konkrete Ansätze im Kopf, öffnet seine Arbeiten aber jeder anderen oder weitergehenden Auslegung. Bei den Siegern wählte er als Vorlage für die Männergruppe eine Fotografie aus den 1960er Jahren, die eine Gruppe Arbeiter zeigt. In Siegerpose reißen zwei der vier Männer die Arme hoch. Verschiedene Versatzstücke können den Betrachter auf das Thema der Arbeiter und eines politischen Inhalts führen. Die Brillen können als Schutzbrillen gelesen werden, die Frisur der nach vorn ausgerichteten Hauptfigur weist auf eine gewisse Zeitmode hin, und nicht zuletzt deutet das an den linken Bildrand gesetzte und deutlich zu erkennende Porträt Willy Brandts in eine politische Richtung. Bei unbedachterem Betrachten könnten die Brillen aber auch als Taucherbrillen interpretiert und die Gruppe für einen Verein von Schwimmern und somit Protagonisten eines sportlichen Ereignisses gesehen werden.
Spannungsreich ist, wie Kunstic seine Unterlage und die darüber gelegte Darstellung miteinander verbindet und zu einem einheitlichen Bild kombiniert. Dabei bleiben die Bedeutungsträger – wie das Brandt-Porträt oder die Betonung der Kunst durch den Schriftzug Die Art (am rechten Bildrand) - bestehen. Er legt seine Figuren größtenteils nur in den Konturlinien an und gewährleistet so einen „Durchblick“ auf den Untergrund. Dabei werden die Struktur der Grundlage und teilweise auch ihre Farbigkeit mit berücksichtigt. Wie bei den Siegern bildet der Untergrund oft ein Raster, bestimmt durch die rechteckige Größe der (Katalog-)Blätter, oder es ergibt sich eine waagerechte Struktur, wie es die eingearbeiteten Notenblätter hervorbringen. Auch werden einzelne Fragmente des Untergrundes zu Gestaltungselementen, wie die Zielscheibe, die hier auch als „Achselhaare“ gelesen werden kann. Hier zeigt sich eine für Kunstic typische und prägende Eigenschaft. Trotz aller möglichen inhaltlichen Interpretationen hat er sich immer ein Augenzwinkern und eine gute Portion Humor bewahrt.
Auch bei der Wahl der Titel, die zum Werk mit dazu gehören und Kunstic teilweise als Wortkünstler zeigen, spiegelt sich sein Augenzwinkern. Als Frauchen bezeichnet er seine Verarbeitung des wohl berühmtesten Marilyn-Monroe-Bildes, des Film-Stills aus Das Verflixte siebte Jahr. Er spielt mit dem Wissen des Betrachters, der wohl in den allermeisten Fällen diese Vorlage entziffern kann, und legt dem Sexsymbol der 50er und 60er Jahre einen auf dem Rücken liegenden und nach Streicheleinheiten bettelnden Hund zu Füßen. Zwar scheint sich die Filmdiva nicht an ihrem Begleiter zu stören, doch ermöglicht ihm seine Position einen direkten Blick unter den Rock, eine Begehrlichkeit der Betrachter, mit der das Bild spielt und aus der es seine Wirkung zieht. Wieder liegen Werke der bildenden Kunst – ebenfalls teilweise Ikonen des kollektiven Bildgedächtnisses – der Darstellung zugrunde. Der Schriftzug „Die Art“ durchbricht die Linie des tief liegenden Horizonts.
Der Hund und im Umriss wiedergegebene Figuren der (Kunst-) Geschichte begegnen dem Betrachter auch in anderen Bildern. So warten Henri Toulouse-Lautrecs Damen der Halbwelt – dem mittelalterlichen Herrscher beim königlichen Spiel des Schach zusehend – unter dem Titel Wartespiele auf ihre nächsten Kunden. Das Embryo Leonardo da Vincis bildet mit Picassos Figur des Denkers, aber auch des Verzweifelten eine Schnittmenge. Kunstic stellt in diesen Arbeiten, in denen er konsequent der Figur als Gestaltungsmittel treu bleibt, die Dinge in einen neuen Zusammenhang.
Nach seinen Skulpturen sucht Mladen Kunstic mit der Malerei neue Wege, bleibt aber auch vielen seiner Interessen und Vorlieben treu. So zeigen die Buchblumen, die Gartenmusik und die Notenblätter immer wieder aufs Neue seine große Liebe zur Musik. Diese wird noch überlagert durch die Liebe zur Natur, die hier in Form von Blatt und Blüte in Erscheinung tritt. Und noch ein weiterer Aspekt zeigt sich hier deutlich, der auch schon in den bisher besprochenen Bildern angelegt ist: Die Befragung der Reihung. So kehren die Blüten und Blätter immer wieder. Sowohl der Untergrund in seinen Strukturen – besonders bei den Noten –, als auch das florale Element weisen Reihungen auf. In der Komposition werden Blüten und Blätter, manchmal nur in ihrer Farbigkeit unterschieden, eingesetzt und können sich bis zum Ornamentalen verdichten. Der „Klang“ dieser Werke spielt dabei eine zentrale Rolle.
Manufactus Edition 1000
Während Kunstic bei den großen Formaten zunächst Skulpturen herstellt und sich dann der Malerei zuwendet, beschäftigt er sich seit 1989 kontinuierlich mit einem kleinformatigen Bereich, der als grafische Collage bezeichnet werden kann. Auch hier widersetzten sich seine Arbeiten den klassischen Gattungsbegriffen. Besonders bei den frühen Arbeiten spielt der Einfluss seiner Skulpturen hinein, der später zugunsten einer stärker malerischen Ausrichtung abgelöst wird. Die chronologisch angelegte Folge spiegelt seine sich verändernden künstlerischen Schwerpunkte.
Das Stehkreuz aus dem Jahre 1989 ist ein Beispiel für die Nähe zur Skulptur. Nicht nur in der Materialität – Papier und Metall – weist es auf die Dualität zwischen Grafik und Skulptur, auch in seinen Wandlungsmöglichkeiten gehört es zum einen wie zum anderen: das Kreuz kann die Zweidimensionalität der Grafik zugunsten der Dreidimensionalität der Skulptur verlassen.
Die Idee der Jahresgabe hat Mladen Kunstic zu diesen Arbeiten angeregt. Er selbst betitelt die Reihe als Manufactus-Edition, also als das Handgemachte, und sieht sie zusammenhängend wie auch als Einzelstücke. Hier bietet sich für den Künstler die Möglichkeit, am Ende eines Jahres über das Vergangene zu reflektieren und dies künstlerisch umzusetzen. Dabei ist die Wahl der Themen völlig subjektiv, oft sogar sehr persönlich. Er wählt aus, was ihn beschäftigt, unabhängig davon, ob es vielleicht banal erscheint. Dem Betrachter steht dabei offen, ihm zu folgen oder sich ganz eigene Gedanken, Interpretationen und Vorstellungen zu machen. Die von Kunstic sorgfältig und manchmal nahezu philosophisch ausgewählten Titel können dabei den Weg weisen oder genau vom Weg abbringen. Wobei die jeweilige Ausdeutung des Einzelnen auch immer für diesen richtig ist.
Bahnübergang heißt das blaue Kreuz, durch ein Federstahlband zu einem doppelbalkigen Kreuz ergänzt. Er lässt Assoziationen zur Verbindung der Kulturen zu. Die Form erinnert an das russische Kreuz, während man bei Bahnübergang an das westliche Andreaskreuz denken kann. Der Übergang zwischen den beiden Kulturen ist hier von dem in Zagreb, im ehemaligen Jugoslawien/heute Kroatien geborenen Künstler geöffnet worden. Auch die Zwei-Heit thematisiert das Doppelte, das Verschiedene und das doch Zusammengehörige – Metall und Papier, Skulptur und Grafik, Ganzes und Geschnittenes, Farbiges und Weißes – um nur einige der Gegensatzpaare zu nennen, die bis weit in den sozial-kulturellen Raum erweitert werden könnten. Dass die Interpretation bis in den gesellschaftlichen Bereich ein Anliegen Kunstics ist, zeigt die Arbeit Heimat. Zwei rote Herzen werden in Frottagetechnik auf das glatte Papier übertragen und zeigen die beiden Herzen des Künstlers. Während das hintere, rote und unversehrte Herz für seine deutsche Heimat steht, zeigt das weiße kroatische Herz das Geschoss, mit dem es getroffen wurde. Der Krieg, der sein Heimatland so lange erschüttert hat, wird in diesem Akt sichtbar und fühlbar. Die Zwei-Heit als Thema des Vorjahres scheint sich auch hier auf die Heimat zu beziehen.
Dabei bieten die Editionen Mladen Kunstic die Möglichkeit, in den unterschiedlichsten Techniken zu arbeiten und sich darin auszudrücken. In Farbe wie Form äußerst reduziert, zeigt sich der Vorhang als „geschnittenes Bild“. Das neue Haus zeigt in dieser Edition erstmals eine besondere Vorliebe Kunstics, nämlich den Einsatz von Stempeln. In der (Kunst-) Geschichte haben Stempel eine uralte Tradition. Sie bieten zum ersten Mal die Möglichkeit, z.B. Muster im Rapport zu bringen, aus ihnen entwickelt sich im 15. Jahrhundert der Holzschnitt, und in den asiatischen Ländern werden sie als Namensstempel und Signaturen benutzt. In unserer Gesellschaft sind sie – meist amtlich - ein Symbol der Macht, verkünden häufig vermeintliche Wahrheiten und verweisen auf Rechtsakte. Die Stempel, die Kunstic verwendet, können sowohl objects trouvés sein, die aus einem Verwaltungsbereich aussortiert wurden oder übrig geblieben sind und nun in seiner Kunst ihre Botschaften besiegeln, oder der Künstler lässt sie je nach Bedarf und Thema anfertigen. So werden die Belange des Neuen Hauses vom Betriebsrat bestätigt, während die Zentrale sich durch das untrügbare Merkmal des Fingerabdrucks ausweist. Neben solcher persönlicher Merkmale wie einem Umzug oder einer Verletzung – Kreuzfinger – die aber so zum ganz besonderen persönlichen Merkmal wird, kommen auch weltpolitische Themen wie Hunger oder der Kampf der Kulturen vor.
Der zunehmende Einsatz von Farbe in den Arbeiten Kunstics kündigt sich in dem Dreiklang der Grundfarben Blau – Rot – Gelb von 1997 an, die der Künstler aufträgt und mit dem Rakel aus dem glatten Papier wieder herausreißt, was die besondere Struktur bedingt. Dass die „Kündigung per Kopie“ hier einen Beginn (für Kunstic den seiner Malerei) markiert, kann ebenfalls offen interpretiert werden. Im Grundfarbenkontrast von Blau und Rot führt er ein Jahr später sein Thema des Netzwerks aus. Auch hier kommt zu der malerischen, wieder mit dem Rakel bearbeiteten Farbe die Form der Collage hinzu, indem er ein Gewebenetz, vielleicht als Leitraster für den gedanklichen Prozess, mit hineinbringt.
Wiederum persönlich und romantisch ist die Arbeit Frankreich, die der Künstler nach einem Aufenthalt in dem westlichen Nachbarland anfertigte. Jeder Betrachter verbindet mit diesem Land und den Landesfarben, die hier in der geschnittenen Struktur des Bildes auch an die Flagge erinnern, eigene Erinnerungen und wer denkt bei Paris nicht an die Stadt der Liebe.
Die Arbeit, die bisher wohl am stärksten mit den Gesetzen der Malerei spielt, ist Reminder, wenn auch die inhaltliche Ausdeutung in ganz andere Bereiche gehen kann. Zunächst setzt Kunstic den Komplementärkontrast Rot und Grün auf das Papier, in der ausgedehnten Form von Punkt und Linie. Durch die breiten Pinseldimensionen kommt die Fläche mit ins Spiel, und so sind die wichtigsten Gestaltungsmerkmale der Malerei in minimaler Ausführung vorhanden. Der zugefügte Stempel gilt als Gedächtnisstütze („Reminder!) und fordert uns auf „Bleib’ hier!“ Vielleicht ist es auch eine unbewusste Aufforderung des Künstlers an sich selbst, nun bei der seit 1997 für ihn neu entdeckten Gattung der Malerei zu verweilen.
Doch zeigt er in den Arbeiten der Edition an anderen Stellen eine sehr wenig malerische Bildfindung, wie in Dont forget! aus dem Jahre 2002. Hier ist es ganz das schockierende Erlebnis der Zerstörung der Twin Towers des World Trade Centers in New York und der damit verbundene Tod vieler tausend Menschen am 11. September 2001, das seine Jahresrückschau dominiert. Zwei hochformatige Stempel symbolisieren die Türme, während andere die Versicherungsmentalität der Menschen ad absurdum führen. Den Sockel der Türme bildet die Mitteilung einer „Bestätigung“ und „Kasse bitte zahlen“. Besonders schmerzhaft weist das Wort „Erloschen“ auf die unfassbaren Ausmaße dieses Terroranschlags. Die Aufforderung des Künstlers Don’t forget! sollte hier von allen Betrachtern wörtlich genommen werden.
Hochkomplexe, der Wegwerfgesellschaft entstammende Dinge wie der Eckenschutz werden von Kunstic wie eine Art Ready made übernommen. Durch Aufklappen der Pappen entsteht ein Bild mit verschlüsselten Botschaften („30 x 40“, „b+h“) und eigener skulpturaler wie ästhetischer Wirkung. Aus einem anderen Fundstück, einem Gesangbuch, nimmt Kunstic die Seite mit dem „Agnus Dei“ heraus. Große rote Stempel rahmen die Gesänge mit der Botschaft „sofort vorzulegen“, der gestempelte Wochenablauf der Arbeit Days warnt am Mittwoch zur „Vorsicht“.
Eine neue Bearbeitungsmethode findet Kunstic in der Arbeit Homosapiens von 2005. Zwei Füße bzw. Fußabdrücke verbinden sich und enden in Spiralen. Sie wurden vom Künstler in das Papier gefräst, eine Bearbeitungsmethode, die für Papier ganz untypisch ist. Dieses Herausnehmen der Kontur schafft einen eigenen ästhetischen Effekt und zeigt die Experimentierfreude und das kreative Potential Kunstics auch im Bereich der Techniken.
Momentan ist Homosapiens das letzte Blatt des Zyklus. Dies wird nicht so bleiben, da der Künstler mit der Manufactus Edition 1000 ein langangelegtes Ziel verfolgt. Zu jedem folgenden Jahr wird eine weitere Arbeit entstehen und die Reihe komplettieren. Die Vision Kunstics sieht vor, Jahr für Jahr ein neue Arbeit zu gestalten, so dass die Edition am Ende seines (Lebens-) Weges als eine Art Rückblick auf sein künstlerisches Leben bedeutet. Damit wird der Vergänglichkeit des Lebens der Gedanke des Überdauerns der Kunst entgegengestellt.

Manufactus Edition 71
In einer zweiten Folge, der Manufactus Edition 71, beschäftigt Kunstic sich weiter mit dem kleinen Format. Die in den Jahresgaben anklingenden Möglichkeiten werden hier ausgebaut und weiter befragt. Die kleine Auflage von 71 Multiples erwähnt der Titel. Kunstic selbst bezeichnet die Werke als eine Art Reservoir der Kreativität, wo er umsetzen kann, was ihm beim Malen großer Formate einfällt und wofür er eine andere Ausdrucksmöglichkeit als die Malerei sucht. Viele der Blätter zeigen politische, zeit- und gesellschaftskritische Aspekte, die aber wiederum - ganz nach Kunstics Art - auch mit einem Augenzwinkern zu lesen sind.
Die Frottage und der Stempel, aber auch die Collage spielen bei diesen Arbeiten auf Papier eine große Rolle. So überträgt der Künstler in der Frottagetechnik in Brain book eine Kreuzstruktur auf das Papier und stempelt die Aufforderung „BÜCHER Bleibt hier!“, nur auf den zweiten Blick zu entziffernd zwischen den Strukturen. Auch beim Brain storm sind überkreuzende Bänder auffrottiert, die wie ein großes Geflecht erscheinen, in der Mikrostruktur aber kristallin sind. Hier werden Kunstics Arbeiten ganz dem nahsichtigen Medium der Grafik gerecht, wo im Kleinteiligen eine eigene Struktur und damit auch Bedeutungsebene sichtbar werden kann. Die kristallinen Formen, die eine bemerkenswerte Vielfalt aufweisen, können hier – unter dem Titel „Brain storm“ – sowohl auf den großen Einfallsreichtum der Natur hinweisen als auch auf die Gehirnwindungen selbst. In der Makrostruktur verkünden die Stempel nüchtern „Zweitschrift Bücher Bezahlt“.
Als ernster und tiefsinniger Künstler erscheint Kunstic, wenn er den Bildschmuck aus Todesanzeigen zu einer Collage zusammensetzt und mit Stempeln in Kreuzesform überdeckt, die nach Vertragsnummern und Auszahlungen fragen. Der Titel „Was bleibt“ stimmt nachdenklich und weist auf die Vergänglichkeit des Lebens und den Fortbestand des bürokratischen Aktes.
In verschiedene Werke bringt der Künstler sich selbst mit ein, in Form seines aufgestempelten Namens. Dabei wird der Stempel zum Selbstporträt. Dies kann wie beim „Kunstic Kreuz“ in Verbindung mit auch in anderen Werken verwendeten Formen geschehen: die Hintergrundstruktur findet sich in einer Reihe weiterer Arbeiten und den Stempel „Kreis im Quadrat“ hat der Künstler u.a. auch bei den „Bullaugen“ verwendet. Aber auch in der Stadtkulisse von München mit den beiden markanten Türmen der Frauenkirche ist Kunstics Selbstporträt präsent. Im „One Way“ ist er gefangen im geschlossenen Kreis seiner gestempelten Identität und der Stempel im Zentrum „Entgelt zahlt Empfänger“ ist ein Hinweis auf die Verbindung von Kunst und Wirtschaft. Wie üblich mit einer guten Portion Ironie zeigt sich Kunstic über der zweiten Arbeit mit Münchener Hintergrund als „Säule der Gesellschaft“, die auf drei etwas wackeligen Pfeilern ruht.
Im „1. Februar“ arbeitet Kunstic ein Blatt aus einem gefundenen Gesangbuch ein, rahmt dieses mit seinen Namensstempeln, warnt in der Mitte vor Büchern und Brief und gibt in der Doppelung die Bearbeitung bekannt: Auf EDV übernommen Dat. 01. Feb. Ein Hinweis auf den baldigen Verlust von haptischem Wissens- und Informationsmaterial ( Bücher, Zeitungen, Briefe ) und den Beginn einer neuen Zeit der elektronischen Medien.
Seine romantische Ader zeigt der Künstler in der Manufactus Edition 71 in verschiedenen Blumenstücken und der „Arbeit Aachen wa!“, in der er die Liebe zu seiner Wahlheimat thematisiert. In „Aachener Dom“ bringt er eine neue Technik ein, er siegelt in rotem Lack das Wahrzeichen Aachens aufs Papier. Hierzu benutzt er eine Schokoladenmatrize eines bekannten Aachener Süßwarenherstellers. In altdeutscher Schrift wird das „Deutsche“ benannt, mit einem neutralen Stempel „Päckchen Paquet“. Kunstic öffnet dem Betrachter Denkräume, die es auszufüllen gilt.
Gesellschaftskritisch wird es in der Arbeit „Europa Grenze“, in der das kleine Kreuz an die vielen Toten erinnert, die diese noch „offene Grenze“ in der Vergangenheit gefordert hat. Bei der „Erinnerung“ siegelt Kunstic den „Europa Geier“ in Form eines 10 DM-Geldstücks auf das mit einer schwarzen Struktur bedeckte Papier. Wird es ein Europa der Menschen, die auf der Grundlage von sozialer und kultureller Gleichberechtigung und Gerechtigkeit leben oder ein Europa der „Europa Geier“?
In den jüngsten Arbeiten setzt Kunstic sich in erster Linie mit der deutschen Geschichte auseinander. Fundstücke in Form von alten Briefmarken finden hier Verwendung. So weist die „Spurbreite“ eine Briefmarke mit „Hitlerkopf“ und „Reichsbahn Stempel“ auf und gibt 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges erneut Anstoß zur Auseinandersetzung mit dem 3. Reich.
Das „Brandenburger Tor“, ebenfalls durch eine historische Briefmarke vertreten und mit dem Stempel des aufgehenden Kreuzes bekrönt, kann an die jüngeren deutschen Ereignisse wie Mauerfall und Wiedervereinigung denken lassen. Dabei kann das Kreuz auch als Zeichen des Christentums gelesen werden und an die aktive Unterstützung des Papstes Johannes Paul II. in diesem politischen Prozess erinnern. Der historische Gang des Kirchenoberhauptes mit dem Altbundeskanzler Helmut Kohl 1996 durch das Brandenburger Tor, war hier die symbolische Geste für die Macht der Freiheit und Friedfertigkeit. Für den aus Kroatien stammenden Künstler war die Auflösung der deutschen Mauer und des Kommunismus von besonderer Bedeutung. Die „braune Soße“, die den Hintergrund dieser Arbeit bildet, erinnert aber auch an eine andere Vergangenheit, die zum Mauerbau geführt hat, die nicht wiederkehren darf.

Mladen Kunstic erweist sich in seinen Arbeiten als äußerst vielseitiger und beeindruckend kreativer Künstler. Nicht nur in den Techniken und künstlerischen Medien sucht er nach immer neuen Ausdrucksmöglichkeiten und Herausforderungen, auch bei den Themen zeigt sich eine erstaunliche Bandbreite. Sozial- und gesellschaftspolitische Themen stehen neben romantischen und musischen Arbeiten, Augenzwinkern und Ironie neben Ernsthaftigkeit und Anteilnahme. Dabei bieten ihm die Manufactus Editionen einen besonderen Raum der Freiheit, seine Ideen umzusetzen, seine Themen in die Welt zu bringen.
Dieser dynamische Weg wird auch in Zukunft viel Freiraum für neue künstlerische Ausdrucksformen bieten.

Christine Vogt


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